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Der Lethe.

Der "verborgene" Strom! Der Strom der Vergessenheit! Wenigen Sterblichen ist es beschieden, aus ihm zu trinken, Wenigen ist es vergönnt, über ihn zu setzen und an die Oberwelt wie Odysseus und Orpheus zurückzukehren! Wie Mancher aber wurde gern einen Trunk Lethewasser nehmen, um Dinge und Schicksale, die ihn im Laufe seines Lebens bekümmerten, um Thaten, die er selbst gern ungeschehen machen möchte, in den Strom der Vergessenheit zu versenken. Mancher würde gern aus dem Lethe trinken, wenn er nicht befürchtete, mit der Vergesslichkeit des Bösen zugleich die des Guten erkaufen zu müssen. Erinnerung! Das ist es ja, was bei Manchem einzig und allein die Existenz noch wünschenswerth erscheinen lässt. Und liegt es doch in der menschlichen Natur, dass das Angenehme stets wieder auftaucht, während das Unangenehme, auch ohne dass man Lethewasser zu Hilfe nimmt, sich mehr und mehr verschleiert und in immer weitere Fernen gerückt wird. Ja, ich glaube, dass selbst bei Vielen das Gefühl vorherrscht, dass sie auch nicht die unangenehmsten Ereignisse aus ihrem Dasein verwischt haben machten, sondern sogar in den schrecklichsten Episoden ihres Lebens schliesslich eine Genugthuung, ich will nicht sagen, einen Trost erblicken können.

Der Lethefluss hat übrigens heute auch ganz seine Eigenschaft verloren und ohne befürchten zu müssen, seine ganze Vergangenheit zu vergessen, kann man vom klaren Wasser dieses unterweltlichen Baches trinken. Sollten sich im Alterthume unsere geistigen Vorfahren nicht haben überzeugen können von dieser Ungefährlichkeit?! Hören wir den Dichter der Verwandlungen:

Nächst den Cimmeriern ist die lang eingehende Steinkluft[44]

Tief in den Berg, wo hauset der unbetriebsame Schlafgott.

Nimmer erreicht, aufgebend, am Mittag, oder sich senkend,

Phöbus mit Strahlen den Ort. Ein matt umdüsternder Nebel,

Haucht vom Tempel empor, und Dämmerung zweifelnden Lichtes.

Kein wachhaltender Vogel mit purpurkammigem Antlitz

Kräht die Aurora herauf: auch stört durch Laute die Stille

Kein sorgfältiger Hund, noch die aufmerksamere Hofgans.

Weder Gewild noch Vieh, noch von Luft geregete Zweige,

Geben Geräusch, noch Rede, von menschlichen Zungen gewechselt.

Stumm dort wohnet die Ruh. Doch hervor am Fusse des Felsens

Rinnt ein lethäischer Bach, durch den mit leisem Gemurmel

Ueber die Nieselchen rauscht die sanft einschläfernde Welle.

Rings um die Pforte, der Gruft sind wuchernde Blumen des Mohnes

Und unzählbare Kräuter, woraus sich Milch zur Betäubung

Sammelt die Nacht, und thauig die dumpfigen Lande besprenget.

So wie Ovid den Lethe schildert, existirt er noch heute. Aber merkwürdig, obschon die Bewohner Bengasis Kenntniss haben von diesem im Alterthum so denkwürdigen Strom, geben sich die wenigsten die Mühe, zur Grotte hinzupilgern. Und doch ist er so nahe; nur etwa acht Kilometer ist der Eingang zur Unterwelt vom alten Berenike, vom heutigen Bengasi entfernt.

Mich hielt nichts; kaum hatte ich einige Tage geruht von den angestrengten Märschen und Ritten, als ich eine ganze Gesellschaft zusammenlud, mich zum Strome der ewigen Vergessenheit zu begleiten. Herren und Damen, Juden, Christen und Mohamedaner - alle wollten die wunderbare Kraft des Wassers erproben, und Viele glaubten wirklich an die Eigenschaft des Lethe!? Pferde, Maulthiere und Esel wurden requirirt, sogar zwei Karren mitgenommen, um den nothwendigen Proviant fortzuschaffen, und Morgens um 8 Uhr ging es fort, und bald lag Bengasi, seine Palmenhaine im Rücken und auch der blaue Ocean entschwand den Blicken.

Man ritt östlich etwas zu Nord, und zwar ging der Weg dahin durch eine öde und ziemlich nackte Gegend. Aber vor Einem das Gebirge, und rechts und links vom Wege die zahlreichen Ueberreste der Bauten von Griechen und Römern: hier steinerne Einfriedigungen, dort Steinbrüche, hier Stelen, dort Sarkophage etc., Alles das nimmt die ganze Aufmerksamkeit des Reisenden in Anspruch. Und gerade aus den vielen massiven Einzäunungen darf man schliessen, dass einst hier eine ganz andere Vegetation geherrscht haben muss, als jetzt, wo vom nackten Boden aller Humus fortgeschwemmt ist. Hier waren die Besperiden-Gärten? fragt der erstaunte Wanderer, und nirgends ist jetzt auch nur ein Baum oder Strauch zu sehen; nur spärliche Pflanzen zeigen sich hie und da zwischen den Spalten des felsigen Bodens und werden von halbverhungerten Schafen abgeweidet. So ziehen wir weiter - plötzlich öffnet sich zu ebener Erde, aber im felsigen Boden, ein Schlund. Steil geht es in die Erde hinein und im Hintergrunde wölbt sich eine dunkle Höhle. Wir haben den Eingang zur Unterwelt erreicht. Der Anblick ist in der That imponirend und so grossartig, dass man zum Glauben geneigt sein könnte, man habe es mit einem Kunstgebilde zu thun. Aber es ist die Natur, welche dies Wunder geschaffen hat. Die Feuchtigkeit des Lethe selbst hat eben ein üppiges Grün geschaffen am Anfange der Oeffnung; Erdbeerbaum, Lentisken, Myrthen, Feigen und Johannisbrod drängen sich zwischen den Felsblöcken hervor, und ganz am Eingange konnte ich einen grossen Strauss lieblich duftender Alpenveilchen (Cyclamen) sammeln! Alpenveilchen in Cyrenaika!

Jetzt ging's hinein. Die äussere Höhle verengt sich nach Innen trichterartig, so dass zuletzt die Felsen sich auf Manneshöhe dem Boden nähern; weiter gehend, senkt sich vollkommene Dunkelheit auf den Wanderer, und durch eine Wendung wird das dürftig einfallende Tageslicht schliesslich ganz vom unterirdischen Raume ausgeschlossen. Nur nach längerem Verweilen gewöhnt sich das Auge allmählich daran, auch in der Finsterniss die Gegenstände zu unterscheiden. Man erreicht nun den Fluss selbst, der klar und ruhig vor Einem liegt; ein mitgebrachtes kleiner, Boot wird bestiegen, und das Sondiren mit den Rudern zeigt Einem, dass das Wasser immerhin meist einen Meter tief bleibt. Das Verlangen, vom Lethe Wasser zu trinken, kann jetzt nach Genüge gestillt werden, und vorsichtshalber - um nicht alles zu vergessen - mischt man etwas Wein bei; "Wein benimmt dem Wasser nämlich seine letheische Eigenschaft", wie ich ermuthigend der Gesellschaft mittheilte.

Endlich verengt sich aber die Höhle derart, dass ein Weiterfahren unmöglich wird, trotzdem das Schiffchen von bescheidener Kleinheit ist. Uns begleitende Araber versichern, der Fluss ginge viel weiter und käme später sogar an die Oberfläche - aber wo? Darin widersprach Einer dem Andern. Aber es entspricht der Dichtung der Alten. Wir fahren jetzt zurück und erklimmen den Ausgang, froh, aus der Unterwelt zurückkehren zu können. Die Sonne scheint so hell und kräftig, denn obschon wir im November sind, herrscht frühlingsmässiges Wetter; die blühenden Alpenveilchen, die girrenden wilden Tauben, welche den Eingang zur Unterwelt bewachen, die jubelnden Lerchen hoch oben in den blauen Lüften, sie alle verkünden den Frühling. Und jetzt begeben wir uns nach Osman Agha's Garten, der ebenso wunderbar ist, wie die eben verlassene Höhle. Derselbe liegt nämlich auch in vollkommen nackter und kahler Ebene, in einer von allen Seiten steil abfallenden Einsenkung. Aber innerhalb dieser Einsenkung entfaltet sich ein so üppiger Pflanzenwuchs, wie ihn die lebhafteste Phantasie nicht schöner hervorzaubern kann. Orangen, Granaten, Aepfel, Birnen, Feigen Mandeln, Aprikosen und Pfirsiche wuchern dort und suchen sich gegenseitig den Platz streitig zu machen, während der überall sich durchschlingende Wein alle jene herrlichen Obstbäume eint und die hoch herausragenden Dattelpalmen nur dazu da zu sein scheinen, um dem Besucher zu sagen: "Du bist in Africa!" Es ist schwer, in diesem Garten einen hinlänglich grossen Platz zu finden, wo man lagern kann, so drängt ein Baum den andern; aber man hat endlich die Teppiche gebreitet, aus dem draussen haltenden Karren werden nun die Vorräthe gebracht und man erfreut sich des ländlichen Mahles.

Uebrigens ist dies nicht der einzige Strom der Vergessenheit. Auch andere Stämme und Provinzen der Griechen behaupteten, die Ehre eines Lathon oder Lethe zu haben. Die Thessalier, die Lydier wollten ihn besitzen, allgemein verlegte man ihn später hierher zu den Hesperiden. Es waren zuerst die Gebrüder Beechey, welche den "verborgenen Strom" wieder auffanden, und später gibt Barth uns über die ganze Gegend werthvolle Commentare. Selbst heute noch spürt man wie nirgends anderswo in Africa, hier in Cyrenaïka den Hauch des alten griechischen Lebens. Wahr ist es ja, dass Karthago grösseren Weltruhm errang, dass das nahe Leptis Magna vielleicht mehr Handel hatte, als eine Stadt von Pentapolitanien, aber nirgends entwickelte sich griechisches Leben in Africa schöner, als in diesem glücklichen Lande. Man lese nur die herrliche fünfte Ode des Pindar, man wandle nur zwischen jenen prachtvollen Denkmälern, man bewundere nur jene plastischen Werke, die jetzt in England sind und von Smith und Porcher[45] in Cyrene ausgegraben wurden. Systematisch ist aber in diesen Gegenden noch nie ausgegraben worden und die dort zu hebenden Schätze warten noch ihres Schliemann.

Unser fröhliches Mahl dehnte sich weit in den Nachmittag hinein und erst nach Lasser (Nachmittagsgebet) erreichten wir wieder Bengasi. Wir hatten vom Lethewasser getrunken, aber nahmen eine der schönsten Erinnerungen mehr mit! Möchten aber doch diese Erinnerungen dazu führen, dem Kleinode des Mittelmeeres, dem "Garten der Aphrodite", wie Homer diese Landschaft Africas nennt, eine bessere Zukunft zu verschaffen, ein solches Dasein, wie es uns von Pindar und Kallimachus seinerzeit so begeistert vorgeführt wurde.

[44] Nach der Voss'schen Uebersetzung des Ovid. - Die Cimmerier wohnten nach Horner am westlichen Oceanus um den Eingang der Unterwelt, durch Gebirge der Sonne beraubt; nach Ovid bei den Sguteren weiter nach Nordwest am Oceanrand.

[45] Darunter sind Statuen ersten Ranges, z.B. ein Bacchus, ein Apollo citbaroides und verschiedene Andere.


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